Die Welt hat sich unwiederbringlich verändert, die gegenwärtigen Realitäten werden aus ihren früheren Koordinaten herausgerissen, machen das Erhabene albern, das Ehrgeizige lächerlich und so wird die Lyrik ihres „romantischen Heiligenscheins“ beraubt. Dies scheint Iryna Yevsa schwer zu akzeptieren, obwohl in ihren bekanntesten Texten auch der umgekehrte Prozess zu beobachten ist: wenn etwas Alltägliches, Dürftiges, auf dem Grund der Erinnerung Schwelendes plötzlich mythologische Bedeutung und alttestamentarische Wucht erlangt. Jeder hat seine eigenen Wahrheiten und eigene Unwahrheiten, seine eigene Hoffnung und seinen eigenen Totenschein. Es gibt keine Aufteilung in Insider und Outsider, keine klar definierten Sympathien und Antipathien: „In unserem gemeinsamen eurasischen Haus ist plötzlich alles durcheinander.“
Tom Schulz widmet sich der Schönheit und dem Schrecken der Welt gleichermaßen, sei es auf dem europäischen Kontinent oder anderswo. Auch sein neuester Lyrikband »Reisewarnungen für Länder Meere Eisberge«, 2019 bei Hanser Berlin erschienen, weist den Autor als weltgewandten, sich immer neu auf den Weg machenden Schriftsteller aus. Tom Schulz ist ein „Reiseschriftsteller“ im besten Sinne des Wortes: Regelmäßig erscheinen in der „Neuen Zürcher Zeitung“ Reportagen aus aller Welt. 2016 publizierte er mit „Das Wunder von Sadagora“ den Bericht von einer Reise durch Polen, die Westukraine und die Bukowina. Als Lyriker gehört Schulz, so Roman Bucheli, zu einer Autorengeneration, die sich „ganz selbst- verständlich der unterschiedlichsten Formen“ bedienen: „Sie sind nicht um jeden Preis avantgardistisch und schrecken dennoch nicht vor sprachlichen und formalen Experimenten zurück. Sie spielen mit dem Material und bleiben erst recht ganz nah an den Dingen.“
Moderation: Claudia Kramatschek, Literaturkritikerin und Kulturjournalistin.
Festival: »Das Minus-Schiff – Festival für Literatur in dystopischen Zeiten« II
Wie gestaltet man ein Festival der literarischen Zeitzeugenperspektive in Zeiten von Krieg, Klimakatastrophe und Pandemie? Die gesellschaftspolitischen Veränderungen der letzten Zeit, ihre Geschwindigkeit und Tragweite sind so heftig, dass wir aktuell wenig Raum für langfristige Analysen und Schlüsse, auch im Bereich der Literatur und Kunst erkennen. Stattdessen sehen wir die Möglichkeit für eine Reflektion zu den aktuellen Geschehnissen aus einer Zeitzeugen- und geschichtlichen Perspektive. Autor:innen sind nicht nur Zeitzeug:innen sondern auch biographische Geschichtenerzähler:innen, die den Lauf der Veränderungen wahrnehmen und ihre Erfahrungen, ihr Lebenswissen mittels ihrer Werke und ihrer Stimme dem literarisch interessierten Publikum präsentieren. Eine Zeitzeugenperspektive kann den Status Quo thematisieren, den Augenblick abbilden, die Symptome, die Verhältnisse aufdecken. Es geht dabei um den Veränderungsanspruch von Literatur auf der einen Seite und die Fragestellung: Wie weitermachen? Beim »Das Minus-Schiff – Festival für Literatur in dystopischen Zeiten« kommen Autor:innen aus Deutschland, Russland und der Ukraine zusammen, die in literarischen Begegnungen mit ihren Gesprächspartnern ihre Texte vorstellen und sich zu einem gemeinsamen thematischen Schwerpunkt austauschen.
Eine Veranstaltung in Kooperation mit dem VFSV e.V., SLoG e.V. und auslandSPRACHEN, großzügig gefördert von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa